Dauerhaft wie Stein und leicht wie ein Vogel
Die imaginären Zeitreisen der Stahlskulpturen von Georg-Friedrich Wolf
„Meine Skulpturen erzählen von Menschheitsgeschichte, von Technikgeschichte, vom Versuch die Naturgewalten zu beherrschen, von Schwertern und Pflugscharen. Die ganze Polarität unserer Existenz ist auch die Polarität, die dem Stahl innewohnt.“ (Georg-Friedrich Wolf)
Anders als Bronze sind Eisen und Stahl keine klassischen Materialien der Kunst. Hier kamen sie erst in den 1960er Jahren umfassender zum Einsatz. Dabei ist Stahl einer der ältesten Werkstoffe überhaupt. Sein Hauptbestandteil ist Eisen und er lässt sich, kalt oder unter großer Hitze, schmieden, biegen, walzen, ziehen. Er ist von sehr hoher Festigkeit, aber durch seine Formbarkeit „weicher“ als das verwandte, sehr harte und spröde Gusseisen, das sich gut für den Maschinenbau und für konstruktive Elemente eignet, aber nicht geschmiedet werden kann. Georg-Friedrich Wolf schätzt den Stahl sowohl wegen seiner Robustheit und Dauerhaftigkeit als auch wegen seiner Flexibilität, ganz unterschiedliche Formen in fast unbegrenzter Größe annehmen zu können.
Die Geschichte des Stahls reicht in die als Eisenzeit bezeichnete Epoche zurück. Schon im 2. Jahrtausend v. Chr. sind die Verhüttung von Eisenerz und die Herstellung von schmiedbarem und härtbarem Stahl bei den Hethitern in Vorderasien belegt.
Ein wichtiges Kernelement war damals schon der geschmiedete Nagel, der deshalb auch in Wolfs Werk ein zentrales Motiv bildet. Nägel halten alles zusammen, das konstruktiv miteinander verbunden werden soll. Keine Brücke, kein Schiff, kein Bauwerk wäre je entstanden ohne den Nagel. So ist er gleichsam das Signet für die technische, konstruktive Fähigkeit des Menschen, und er verbindet quasi symbolisch die prähistorische Eisenzeit mit dem im 18. Jahrhundert beginnenden, von Kohle und Stahl geprägten Zeitalter der Schwerindustrie.
Dieses verbinden wir vor allem mit den Hochöfen, Stalz- und Walzwerken. Diesem industriellen Komplex hat Adolph von Menzel mit dem Gemälde des „Eisenwalzwerks“ (1872-75, Alte Nationalgalerie Berlin) das vielleicht berühmteste kunsthistorische Denkmal gesetzt – mit dem in Klammern gesetzten zweiten Titel „Moderne Cyclopen“ auch an die Antike erinnernd.
Die Stahlherstellung hat bis heute bestehende politische Allianzen geschmiedet. So wurde die 1952 gegründete Montanunion, mit der die Kohle- und Stahlproduktion in verschiedenen Ländern einheitlich kontrolliert werden konnte, zum Nukleus der Europäischen Union, in der heute über einheitliche Regelungen der Nutzung Künstlicher Intelligenz beraten wird.
Georg-Friedrich Wolfs Stahlskulpturen schlagen eine imaginäre Brücke von der industriellen Revolution bis zurück in die Eisenzeit; gleichzeitig werfen sie einen Blick aus unserer digitalen Gegenwart in die Zukunft. Kunsthistorisch stehen sie in einer vergleichbar kurzen Tradition der Eisen- und Stahlbildhauerei, die erst begann, als die von der Stahlverarbeitung geprägte Schwerindustrie ihre größte Zeit fast schon hinter sich hatte. In den 1960er Jahren stehen in der US-amerikanischen Minimal Art, die bewusst mit industriellen Materialien und seriellen Strukturen arbeitete, die polierten Stahl-kuben Donald Judds den teilweise oxidierten Bodenplatten von Carl André gegenüber. Den heute bei Wolf stark zur Geltung kommenden ästhetischen Reiz rauer Stahloberflächen stellten dann vor allem zwei Künstler heraus: zum einen Richard Serra mit seinen monumentalen Werken aus geraden oder gebogenen Platten; zum anderen der aus dem Baskenland stammende Eduardo Chillida mit seinen zwischen Abstraktion und Figuration, Geometrie und organischen Formen oszillierenden, häufig im Freien und vor wichtigen öffentlichen oder Firmengebäuden platzierten Skulpturen. Vor allem bei Chillida entsteht, trotz der Größe der Werke und der Schwere des Materials, ähnlich wie bei Wolf oft der Eindruck fast schwebender Leichtigkeit. Manche Skulptur Chillidas erscheint, wie der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz schrieb, „wie ein Vogel, wie ein Zeichen des Raums.“
Wolf arbeitet ebenfalls mit der zeichenhaften Wirkung der Silhouetten, die sich von der Wand oder der luftigen Weite des Himmels abheben, so dass bei aller Monumentalität eine fast grafische Qualität entsteht, die der Künstler auch auf den Entstehungsprozess seiner Werke bezieht: „Ich bewege meine Werkzeuge, ohne nachdenken zu müssen, intuitiv und doch hoch präzise, gleich dem Grafiker der seinen Bleistift über das Papier fliegen lässt.“
Mit Stahl lässt sich also imaginär in die Luft zeichnen, was vor allem bei der Betrachtung der Skulpturen aus großer Entfernung zur Geltung kommt. Aber es eröffnen sich auch diffenzierte Wirkungen, je näher man bei der Betrachtung kommt. Dann trifft das Auge auf eine „Oberfläche mit Zunder und Narben, oft wie Leder anmutend, als wäre Glut des Schmiedens darin gespeichert,“ wie es Wolf beschreibt. Das erinnert an die geborstenen, wie verbrannt wirkenden Farbkrusten, die seit den 1950er Jahren bei Vertretern des Informel wie Antoni Tàpies oder Emil Schumacher oder später bei Anselm Kiefer zu finden sind.
Hier standen die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs als reale Erfahrung im Hintergrund. Auch einige Werke Wolfs erinnern an ruinöse Relikte kriegerischer Auseinandersetzungen. Stärker ist jedoch der Gedanke an Bruchstücke und Fragmente, die bei archäologischen Ausgrabungen zutage gefördert wurden.
Viele Werktitel bei Wolf verweisen auf die griechisch-römische Antike, etwa den Feuerbringer Prometheus, dem der Künstler einen ganzen Zyklus von Skulpturen widmet. Einerseits verbindet der Künstler die Eisenzeit imaginär mit der industriellen Revolution und der Gegenwart, andererseits stellt er einen inhaltlichen Assoziationsraum her, der von der antiken Mythologie bis in unser digitales Zeitalter hineinreicht, auf das spätere Generationen vielleicht wie Archäologen zurückblicken werden. Letztlich adressiert Wolfs Werk damit Zeiträume, welche seine eigene Lebenszeit und die aller heutiger Betrachterinnen und Betrachter seiner Skulpturen bei weitem übersteigen.
Solche Projektionen in prähistorische oder zukünftige Zeiten gibt es in der zeitgenössischen Kunst immer wieder, aber sind bisher meines Wissens nicht als zusammenhängender Trend untersucht worden, in dem dann auch Georg-Friedrich Wolf zu sehen wäre.
So betrachtete der Land Art-Künstler Robert Smithson um 1970 die Relikte der im Niedergang begriffenen Schwerindustrie in seiner Heimatstadt Passaic in New Jersey wie Relikte aus archaischer Zeit: „Weil es Samstag war, waren viele Maschinen nicht in Betrieb, und das ließ sie wie im Schlamm steckengebliebene prähistorische Kreaturen aussehen oder mehr noch wie ausgestorbene Maschinen – abgehäutete mechanische Dinosaurier.“1
Seit 1996 steht in der Hamburger Kunsthalle die „Tropfsteinmaschine“ von Bogomir Ecker, die als 500 Jahre andauerndes Werk konzipiert ist und im Jahre 2496 einen etwa fünf cm großen Stalagmiten erwarten lässt. Auf eine noch fernere Zeit hin, in der unsere Gegenwart als ferne Prähistorie erscheinen wird, ist Adriane Wachholz‘ „Our Elements“ (2016–) angelegt. Die deutsche Künstlerin hat 16 eigene Zeichnungen nach der Kunstgeschichte, von Leonardos Wasserstrudeln bis zu Hokusais Woge oder Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, in Präparategläser mit einer mineralischen Flüssigkeit eingeschlossen. Das Papier wird über Jahrtausende hinweg langsam versteinern, genauer gesagt silifizieren; die aus Graphit bestehende Zeichnung jedoch erhalten bleiben.2
Enthalten ist hier auch die Idee einer Zeitkapsel mit Informationen über unsere Zeit und Zivilisation, die an spätere Erdbewohner oder mögliche Wesen von anderen Planeten gerichtet sind. Diese Idee lag auch der Ausstellung „hundert objekte zeigen die welt“ zugrunde, die der Filmregisseur Peter Greenaway 1992 in der Wiener Hofburg inszenierte.
Auch Georg-Friedrich Wolf versendet imaginäre Zeitkapseln. Viele der Werke in seinem Zyklus „Die Poesie der Daten“ tragen in den Stahl eingeschmiedete, codierte Informationen, die nach vielen Jahrtausenden immer noch erhalten sein dürften. Aber können unsere Nachfahren sie dann lesen und verstehen? Sie werden vor ähnlichen Problemen stehen wie heutige Forscher, denen es nur unter großen Mühen und manchmal gar nicht gelingt, die Inschriften auf antiken Stelen oder Obelisken zu entziffern. Immerhin sind sie, durch die Dauerhaftigkeit des Trägermaterials, bis heute ganz oder zumindest fragmentarisch erhalten geblieben, auch wenn der Code zu ihrer Entschlüsselung fehlt.
„Der Obelisk ist der Memory Stick der Antike“, sagt Georg-Friedrich Wolf und schlägt damit, wie aus der fernen Zukunft zurückkehrend, wieder eine Brücke von der Gegenwart in die ebenso ferne Vergangenheit, immer getragen von einem Material, das ähnlich große Dauerhaftigkeit besitzt wie der felsige Stein, mit dem wir geologische Zeiträume gewöhnlich assoziieren, und dabei so leicht erscheinen kann wie ein Vogel, der davonfliegt.
1 Eva Schmidt, Kai Vöckler (Hg.), Robert Smithson. Gesammelte Schriften, Köln, 2000, S. 99.
2 Siehe: Ludwig Seyfarth, Projizierte Zeit, in: Adriane Wachholz, OUR ELEMENTS, Katalogedition 2019.